Tradition und Moderne
Sagenhaftes Uri
«Es ist jetzt viele hundert Jahre her, da hat ein Bub die Schafe auf der Surenen gehirtet.» So beginnt eine der wohl bekanntesten Urner Sagen. Sie erzählt, wie die einst blühende Alp Surenen durch Frevel verloren geht und nur mit grossem Aufwand wieder erlöst wird. Keine andere Region der Schweiz besitzt eine so umfassende Sagensammlung wie Uri. In mühseliger Arbeit hat Spitalpfarrer Josef Müller (1870–1929) rund 1600 Sagen zusammengetragen. Sie sind von 1926 bis 1945 in drei Bänden publiziert worden. In ihnen ist von Verschwendung von Gaben Gottes, von Versetzung von Grenzsteinen, vom Taufen von Tieren und Puppen, von Entweihung von Feiertagen, von Teufeln, Wetterhexen, dem Scheibenhund und Armen Seelen die Rede. Ganze Landschaften geraten ins Wanken, Dinge zerfallen, und der erlegte Gämsbock entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Frauenrock. So unterschiedlich die Sagen auch sind, sie haben immer etwas mit dem Erleben zu tun. Im Zentrum steht die Begegnung mit Aussergewöhnlichem, das von den Betroffenen indes als real empfunden wird. Kreisend um Frevel und Strafe, künden die Urner Sagen stets nur von einem: vom uralten magischen Glauben, dass der Mensch im Guten wie im Bösen das Heil und das Unheil seiner Welt bewirkt.
Magisches Erleben
Von dieser Welt, in der nichts fest gefügt ist, sondern sich alles unerwartet verändern, auseinanderfallen und in neuer Gestalt wieder erscheinen kann, handelt auch das Buch «Goldener Ring über Uri» von Eduard Renner (1891–1952). Es ist das bekannteste und tiefsinnigste Buch, das je über das Erleben und Fühlen der Urner geschrieben worden ist. In ihm beschreibt der Arzt und Volkskundler Eduard Renner in einer poetisch verdichteten Sprache das magische und animistische Weltbild der Urner Bergler, dessen Wurzeln weit in die Vorzeit zurückreichen. Noch immer erlebt der Bergler das rätselvolle Wachsen und Vergehen gewaltiger Naturerscheinungen. Lawine, Steinschlag und Bergsturz können über Nacht seine blühenden Alpen in Steinwüsten verwandeln. Doch es sind nicht unfassbare Dämonen, welche die Umgebung immer wieder tückisch verändern. Das zu glauben verbietet der christliche Glaube. Es ist ein namen- und formloses Es, worin sich all dieses Unsichere und Unfassbare verdichtet. Frevelt ein Mensch, indem er Brauch und Ordnung verletzt, gewinnt dieses Es Macht über den Menschen. Nur indem er die Dinge so nimmt, wie sie sind, sie sorgfältig bewahrt und sich streng an Brauchtum und Herkommen hält, kann er der Haltlosigkeit seiner Umwelt Einhalt gebieten. Doch um dies zu erreichen, muss er selber Haltung bewahren, sich nichts anmerken lassen, eben im viel gerühmten urnerischen «Nyt derglyychä tüä» verharren. Zu Hilfe kommt ihm dabei der Bann, der im Gegensatz zur Zauberei ausdrücklich erlaubt, ja geradezu geboten ist. Nur indem der Mensch um sich einen Bannkreis, einen Ring, zieht, kann er diese unstete Welt festigen. Seinen wohl grossartigsten Ausdruck findet dieser Ringgedanke im Betruf, mit dem der Senn all-abendlich einen Schutzwall um Herde, Hütte und Weide aufrichtet und alles Unheil bannt, so weit seine Stimme reicht.
Der Mensch in der Natur
Was in den Sagen dunkel angedeutet, was bei Eduard Renner tiefsinnig ausgedeutet ist, hat der Maler und Dichter Heinrich Danioth (1896–1953) zu hoher Kunst vollendet. Mensch und Landschaft der Urschweiz haben ihn sein Leben lang gepackt, und er hat sie in zahllosen Wand- und Tafelbildern, Aquarellen, Zeichnungen und druckgrafischen Werken künstlerisch geformt. Danioth war auch Schriftsteller und schrieb zahlreiche Prosastücke, Gedichte und Hörspiele. Sein eigenständigstes und grossartigstes Werk ist «Steile Welt». Jedem Bild stellt er einen kurzen prägnanten Text gegenüber. Hier findet sich auch der berühmte Ausspruch, Uri sei «Prunkkammer Gottes und Irrgarten des Teufels zu gleichen Teilen».
Urchig und Modern
Uri sei «Prunkkammer Gottes und Irrgarten des Teufels zu gleichen Teilen», hat der Maler und Dichter Heinrich Danioth (1896–1953) über seinen Heimatkanton geschrieben. Diese kraftvolle Spannung in der Landschaft der Urschweiz und ihre Bewohnerinnen und Bewohner hat den bekanntesten Urner Künstler sein Leben lang gefesselt. Spannung ist auch der Schlüsselbegriff für das vielfältige kulturelle Leben in Uri, in dem traditionelle und zeitgenössische Kunst Platz finden.
Zwischen Tradition ...
In Bürglen im Schächental findet jährlich auf dem Platz vor der Kirche am zweiten Sonntag im Oktober die Sennenkilbi statt – ein sehenswertes, volkstümliches und farbenfrohes Spektakel. Die traditionelle Kultur hat in Uri
ihren festen Stellenwert und wird in zahlreichen Dorfmusikgesellschaften, Trachtenvereinen, Chören, Volkstheatern und Ländlermusikformationen gepflegt. In vielen Restaurants und Gasthäusern finden regelmässig Ländlermusik-Stubeten statt, die Gelegenheit bieten, Uri von seiner urchigen Seite kennen zu lernen.
Auf eine lange Tradition zurückblicken können die Tellspiele Altdorf. Lange Zeit orientierten sich die Spiele originalgetreu an Schillers Vorlage. In den letzten Jahren wurde die Tell-Saga jedoch laufend aktualisiert und modernisiert.
... Brauchtum ...
Die fasnächtliche «Chatzämüüsig» ist der wohl beliebteste Brauch in Uri. Während der närrischen Tage ziehen Fasnächtlerinnen und Fasnächtler unermüdlich stundenlang durch die Dörfer und intonieren mit Trompeten, Posaunen, Pauken, Trommeln oder anderen Lärmins-trumenten immer wieder die gleiche Melodie, einen alten französischen Reveillemarsch. Die endlosen Wiederholungen versetzen die Musizierenden in eine Art Trance und verleihen der Urner Fasnacht ihren speziellen Charakter, der Jahr für Jahr wieder alle in ihren Bann zieht. Zum Urner Brauchtum gehört auch die «Chilbi», die im Herbst in den Dörfern begangen wird. Neben Musik und Tanz sind es die typischen Urner Spezialitäten, die die «Chilbi» ausmachen: Chabis und Schaffleisch, Krapfen und Pastete.
... und Moderne
Uri pflegt neben Tradition und Brauchtum auch die zeitgenössische Kunst. Im theater uri, im Haus für Kunst Uri oder im Kellertheater im Vogelsang finden regelmässig Konzerte, Theater oder Ausstellungen statt. Zahlreiche kleine Galerien bieten zudem einen guten Überblick über aktuelles kulturelles Schaffen. Mitten in Altdorf steht das Haus für Volksmusik. Das alle zwei Jahre stattfindende Musikfestival Alpentöne in Altdorf schlägt zudem einen Bogen zwischen traditioneller und moderner Volksmusik aus dem ganzen europäischen Alpenraum und lässt mit neuen Tönen aufhorchen.
Kunst ist in Uri auch oft im öffentlichen Raum zu finden: an Privathäusern, Schulen, Verwaltungs- und Geschäftsgebäuden.